Schriftsteller-Handwerk zum Selbst-Ausprobieren
von Nele Zentgraf
Menschen beeindruckt Literatur seit Jahrtausenden – insbesondere der Roman. Damals wie heute lesen Menschen Romane, um sich Langeweile zu vertreiben, das Leben und sich selbst besser zu verstehen, in eine andere Welt zu entfliehen oder eine neue kennenzulernen. Während des Schreibens von Romanen leben Autoren ihre Fantasie aus, verarbeiten Gefühle, werden sich über ihre Stellung bis hin zu existenziellen Fragen klar, machen auf gesellschaftliche und politische Probleme aufmerksam oder bringen ihre Leser zum Lachen. Hast Du Lust, einen Roman zu schreiben? Dieser Artikel bietet einen Einblick in die Arbeit eines Schriftstellers. Anhand der Gestaltung von Figuren wird konkret gezeigt, wie Du eigene Charaktere für Deinen Roman erarbeiten kannst. Die QR-Codes am Rand enthalten jeweils Erklärungen anhand eines Roman-Fallbeispiels.
Romanlesern bleibt nach dem Lesen eines Romans meist nicht die Handlung, sondern die Figuren im Kopf. Daher plant ein Schriftsteller seinen Roman meist, bevor er anfängt zu schreiben. Um die Charaktere Deines Buches real wirken zu lassen, sollen sie etwas Interessantes an sich haben, ein wenig komplex und tiefgründig sein.
Die wichtigste Figur eines Romans, der Protagonist, braucht ein Ziel1. Erreicht er dieses nicht, hat das negative Folgen für die Welt, die ihn umgibt. Dadurch, dass er handeln muss, entsteht eine Geschichte. Den „Höhenunterschied“ zwischen Erreichen und Verfehlen des Ziels nennt man Fallhöhe. Je größer die Fallhöhe, desto spannender wird der Roman eines Schriftstellers.
Ein Protagonist kämpft gegen innere und äußere Konflikte. Ein innerer2 Konflikt ist ein Kampf in den Emotionen und Gedanken einer Figur. Dieser kann zum Beispiel durch Angst, Wut, Eifersucht, Gier, Neid, Stolz, Scham, Schuld, Ablehnung, Liebe oder einen moralischen Konflikt ausgelöst werden. Ein äußerer3 Konflikt ist eine Kraft aus der Umgebung der Figur, die seinem Willen entgegenwirkt. Das kann ein Umstand in der Umgebung der Figur sein oder ein Konflikt mit seinem Gegenspieler, dem Antagonisten.
In einem Roman gibt es immer einen Hauptkonflikt, der Grund dafür ist, dass der Protagonist handeln muss. Weitere kleine Konflikte sorgen für eine größere Fallhöhe, erschweren es ihm, sein Ziel zu erreichen und machen einen Roman spannend.
Der Hauptkonflikt kann Grund für den Antagonisten4 sein, zu handeln. Er macht es dem Protagonisten schwer oder sogar unmöglich, sein Ziel zu erreichen. Dazu muss der Antagonist seinem Gegenspieler mindestens ebenbürtig, am besten überlegen sein. Dann fiebert der Leser umso mehr mit. Der Antagonist muss kein Bösewicht sein. Eine Figur, die ihren besten Freund daran hindern will, seine Talente zu entdecken, aus Angst, weniger Zeit mit ihm verbringen zu können, ist an sich nicht böse, hindert den besten Freund aber dennoch daran, sein Ziel zu erreichen.
Eine Nebenfigur5 oder mehrere Nebenfiguren können dem Protagonisten oder ntagonisten zur Seite stehen. Durch sie hat ein Schriftsteller auch die Möglichkeit, den Konflikt, mit dem sich der Protagonist oder der gesamte Roman beschäftigt, und die Welt seiner Geschichte zu erweitern und zu vertiefen6. Manche Nebenfiguren sind wichtiger als andere. Daher ist es sinnvoll, nur bestimmte in einem Roman zu verwenden und zu planen, wenn sie eine Rolle für die Handlung und Aussage Deine s Romans spielen.
Folgende Fragen können Dir helfen, dreidimensionale Figuren zu erschaffen. Achte darauf, dass der Protagonist das größte Identifikationspotenzial haben soll, weil er dem Leser als ständig Handelnder immer präsent ist. Protagonisten aus Kinderbüchern sind meist im gleichen Alter wie ihre Leser oder etwas älter und werden dadurch zu Vorbildern. Kinder wünschen sich ähnliche Abenteuer zu erleben oder so verrückt, klug oder mutig zu sein wie Michel aus Lönneberga, die Fünf Freunde oder die Wilden Hühner.
Vergiss nicht, dass sich die Eigenschaften der Charaktere im Verlauf des Buches ändern können. Besonders, wenn über einen großen Zeitraum erzählt wird, werden die Figuren immer älter und verändern ihr Aussehen, ihre Denkweise, ihr Handeln.
Physische Ebene
Welche Größe, welches Gewicht, welche Haarfarbe und -länge hat die Figur? Denke dir einen Kleidungsstil aus.
Hat sie besondere Körpermerkmale wie Sommersprossen oder eine Narbe?
Wie alt ist die Figur?
Welche Mimik und Gestik ist typisch für sie?
Soziale Ebene
Wer ist Teil der kleinen/großen Familie und Freundeskreises der Figur? Wie fest und tief sind die jeweiligen Beziehungen?
Ist die Figur extrovertiert oder introvertiert?
Wo wohnt sie und in welchen Verhältnissen?
Welche Sprache(n) spricht die Figur? Was sagt sie oft, was nicht? Benutzt sie Redewendungen, Sprichwörter?
Wie ist ihre finanzielle Lage?
Psychische Ebene
Welche Sehnsüchte, Hoffnungen und (heimliche) Träume hat die Figur?
Was motiviert sie? Was verletzt sie? Was sind ihre Ängste, Geheimnisse?
Hat die Figur Überzeugungen? Steht sie dazu? Was lehnt sie ab?
Was sind ihre Hobbies?
Als Inspiration für Dich:
Beobachte Menschen in unterschiedlichen Milieus. Wenn Du das nächste Mal auf den Bus wartest, im Café sitzt oder spazieren gehst, stelle Dir vor, wie sie die Fragen beantworten würden.
Eine weitere Inspirationsmöglichkeit ist, einen Persönlichkeitstest wie den DISG-Persönlichkeitstest7 machen. Den Fragebogen kannst Du aus Sicht Deines Charakters bearbeiten.
Stärken und Schwächen einer Figur
Damit eine Figur realistisch wirkt, gibt ein Schriftsteller ihr Talente wie Gerechtigkeit, Ausdauer, Humor, Freundlichkeit oder Großzügigkeit und Makel wie Jähzorn, Verschwendungssucht, Tollpatschigkeit oder Plapperei.
Verrate Deinem Leser nicht sofort alle Eigenschaften deiner Figuren. Das macht sie sehr schnell sehr langweilig. Zeige dem Leser Schritt für Schritt mehr Eigenschaften der Figuren und wie diese sich eventuell verändern, während die Figuren handeln.
Ein Charakter wird außerdem realistisch durch seelische oder körperliche Verletzungen, wie erlebte Ungerechtigkeit, die sich tief eingebrannt hat, ein Fehler, den die Figur in der Vergangenheit begangen hat, Betrug, Ablehnung und Isolation von Familie oder Gesellschaft, Enttäuschung oder Verzweiflung. Besonders positive Ereignisse wie Verzeihung, Gerechtigkeit, ausdauernde Treue, Freundschaft oder Annahme können Verletzungen relativieren. Dadurch lässt sich ein Roman abrunden, Konflikte können gelöst werden. Sei allerdings kritisch, ob Dein Roman realistisch bleibt.
Ein geschickter Schriftsteller gestaltet eine Figur weder „schwarz“ noch „weiß“, denn auch ein echter Mensch ist nicht nur mit negativen oder positiven Eigenschaften ausgestattet. Eine Mischung daraus – grau – macht eine Figur ebenso wenig authentisch. Eine bunte Mischung aus Charaktereigenschaften8 ist besser. Je nachdem, in welcher Situation Du Deine Figur handeln lässt, kannst Du ihre unterschiedlichen Eigenschaften in unterschiedlichen Ausprägungen – Schattierungen – in ihrem Handeln zeigen.
Beachte, dass eine extreme Situation extreme Reaktionen9 hervorrufen kann, die die Figur anders handeln lässt als es für sie üblich ist. Eine Extremsituation kann genauso den eigentlichen Charakter einer Figur zum Vorschein bringen.
Show, don’t tell!
Nicht zu erzählen, sondern zu zeigen macht einen Roman lebendig, sodass Leser die Handlung im Kopfkino mitverfolgen kann. Das lässt sich auf viele Bereiche eines Romans anwenden10,11.
Du kannst zum Beispiel Charaktereigenschaften darstellen, indem Du Deine Figuren handeln lässt, statt ihre Charaktereigenschaften zu beschreiben. Ein Schriftsteller kann schreiben: Anna ist eigensinnig. Alternativ kann er schreiben, dass Anna mehrfach Hilfe angeboten wurde, sie die Hilfe aber immer abgelehnt hat. Obwohl man weder eine fiktive noch eine reale Person kennen kann, wenn man nur eine ihrer Handlungen betrachtet, kann man ihren Charakter dennoch einschätzen. Figuren, die zentral für den Plot sind, lässt ein Schriftsteller mehrfach Teil der Handlung sein. Dadurch lernt ein Leser sie automatisch kennen. Möchtest Du, dass ein Leser Figuren, Charaktereigenschaften einer Figur kennenlernt, lasse die Figuren in Situationen geraten, in denen sich ihre Charaktereigenschaften zeigen.
Tipp:
Um „Show, don’t tell“ umzusetzen, frage Dich: Was würde ein Schauspieler im Theater machen, um zum Beispiel eine bestimmte Emotion darzustellen?
Achtung Stereotypen!
Klischeehaftes Aussehen, stereotypische Hobbies, Namen sind langweilig geworden. Ein Beispiel ist der romantische Jugendroman vom grauen Mäuschen und dem gutaussehendem Sportler. Auch das, was als ausgefallen gelten mag, ist stereotypisch geworden. Schach ist beispielsweise kein außergewöhnliches Hobby mehr. Erfinde eine möglichst neuartige Figur. Charakterisiere Deinen Roman durch Charaktere, die nur Du auf diese Weise schaffen kannst.
Nach vielen Jahrhunderten, in denen Literatur geschrieben worden, ist es schwer, Romane zu schreiben, die es so noch nie gegeben hat. Eine Möglichkeit, Klischees zu vermeiden, ist, ein vorhandenes Klischee umzukehren oder eine Facette daran zu ändern. Vertauscht man bespielweise die Rollen vom grauen Mäuschen und dem gutaussehendem Sportler, sodass das Mädchen die gutaussehende Sportlerin ist und der Junge das graue Mäuschen, wäre das ebenso ein Klischee. Um hier Klischees zu umgehen, könnte man eine Facette an der Geschichte ändern, indem man den Figuren jeweils untypische Hobbies gibt. Der Sportler könnte in seiner Freizeit heimlich zeichnen oder dichten und das graue Mäuschen Rock-Musik spielen.
Neben der Gestaltung von Figuren gibt es noch viel mehr über das Handwerk eines Schriftstellers zu erfahren. Wie man Settings gestaltet, Plottwists aufbaut, seinen eigenen Schreibstil verbessert … Zahlreiche Schreibratgeber, Blogs im Internet, Podcasts und Videos auf YouTube, bieten dazu jede Menge Inspiration. Aber auch das Lesen von Büchern mit Deinen Augen als Autor, schult Dich zu schreiben.
Quellen
https://www.ardalpha.de/lernen/alpha-lernen/faecher/deutsch/1-literarische-texte-literatur-einfuehrung-102.html
https://www.ardalpha.de/lernen/alpha-lernen/faecher/deutsch/1-uebungen-literatur100.html https://wortwuchs.net/roman/ [16.03.24]
https://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/werke/929-carroll-lewis-alice-im-wunderland [16.03.24]
Carroll, L. (2019). Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass (1. Aufl.).
https://youtu.be/VG49bF8rEU0?feature=shared Begrifflichkeiten [16.03.24]
https://www.vomschreibenleben.de/diese-3-elemente-braucht-jeder-lesenswerte-roman-teil-1-der-held/ AB [18.02.24]
https://www.socreate.it/de/blogbeiträge/drehbuchschreiben/beispiele-fur-außere-und-innere-konflikte-in-einer-geschichte [09.02.24]
https://youtu.be/c95pY67bcNA?feature=shared [16.03.24]
https://youtu.be/e-jCTO9Vg8k?feature=shared [08.01.24]
Austen, J. (2018). Stolz und Vorurteil (1. Aufl.). Coppenrath
https://youtu.be/xwpQglH4SDs?feature=shared [16.03.24]
https://youtu.be/DSRlWtBKino?feature=shared [16.03.24]
Bildquellen, die zu eigenen Illustrationen inspiriert haben
https://pin.it/7ajLb52OW [29.03.24]
https://www.canstockphoto.com [18.01.24] kompletter Link nicht mehr aufführbar, aufgrund Betriebsaufgabe der Website
https://pin.it/6W1CtIhHM [29.03.24]
https://pin.it/6EV0HTwDX [29.03.24]
https://pin.it/2TUTsOvBW [29.03.24]
https://pin.it/4jbjsPXAU [21.01.24]
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